Vor 175 Jahren gegründet, um die Not der arbeitenden Bevölkerung zu lindern

Sun, 10 Sep 2023 17:10:34 +0000 von Marion Schaper

Die HARKE, am 31.08.2023
von Edda Hagebölling

Geht es den Menschen heute besser? / Diakonie-Geschäftsführerin Marion Schaper im HARKE-Interview / Jubiläumsaktionen am 2. und am 8. September
 
Es sind unruhige Zeiten. Das Vertrauen in die Eliten ist erschüttert. Das gesellschaftliche Gefüge bebt. Neue Technologien revolutionieren die Arbeitswelt, die urbanen Zentren wachsen, ländliche Räume veröden, die Menschen gehen auf die Straße. So in etwa ist die Lage, als der Lehrer und Theologe Johann Hinrich Wichern am 22. September 1848 auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg seine Brandrede hält und der dort versammelten Geistlichkeit kollektives Versagen an der verarmten Bevölkerung vorwirft. Eine seiner Kernbotschaften lautet: „Wachsende Armut frisst die Würde zu vieler Menschen auf und nur wenige Wohlhabende zeigen daran Interesse.“ Wichern setzt damit den entscheidenden Impuls für die Geburtsstunde des Diakonischen Werks. Geschäftsführerin des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Nienburg ist Marion Schaper. Im Interview mit der HARKE berichtet sie, was im Rahmen der Jubiläumswoche „175 Jahre Diakonie“ in Nienburg geplant ist und wie es heute bestellt ist um die Menschen im Landkreis Nienburg.
 
 
Frau Schaper, 175 Jahre Diakonisches Werk. Ein Grund zum Feiern?
 
Marion Schaper: Nicht wirklich. Im Grunde ist es schlimm, dass es die Angebote des Diakonischen Werks immer noch geben muss. Und dass sie wichtiger sind denn je. Wir nehmen dieses Jubiläum darum eher zum Anlass, auf uns und unsere Botschaft aufmerksam zu machen. Wer möchte, kann am Sonnabend an unserem Infostand auf dem Nienburger Wochenmarkt mit uns ins Gespräch kommen. Die Jubiläumsfeier selbst findet am 8. September ab 15 Uhr im Gemeinschaftsgarten „Neue Erde“ am Ende des Bruchwegs in Nienburg statt. Ohne Sekt und ohne Feuerwerk. Aber dennoch wollen wir würdigen, was die Mitarbeitenden damals und heute geleistet haben und leisten. Und es wird Selbstgebackenes aus dem Lehmofen, sowie auch ein kleines Kinderfest geben. Auch zu dieser Veranstaltung sind alle Interessierten vielmals willkommen.
 
Seit wann gibt es denn die Geschäftsstelle des Diakonische Werkes in Nienburg? 
 
Marion Schaper: Als ich 1985 nach Nienburg kam, wurde die Geschäftsstelle zu ersten Mal mit Mitarbeiterinnen besetzt. Sie bestand aus zwei Personen. Die eine war Hannelore Zachlod, die andere war ich. Superintendent Dr. Werner Monselewski war damals mein Chef. Er und Werner Feldmann, der damals Leiter des Kreis-Sozialamtes und Mitglied im Kirchenkreisvorstand war, hatten bis dahin die diakonische Arbeit im Kirchenkreis mit viel Herzblut gemanagt. Heute besteht unser Team aus 9 festen Kräfte und einer freien Mitarbeiterin. 
 
Die Angebote des Diakonischen Werks? Ich habe in erster Linie die Beratungsstelle in der Friedrichstraße vor Augen. Was gibt es sonst noch?
 
Marion Schaper: Zu uns gehört ja noch die Neue Erde inklusive Kinderprojekt „Flotte Möhre“. Zum Diakonischen Werk gehören im Kreis Nienburg die Diakonischen Werke Stolzenau-Loccum und Hoya, außerdem das Wohnheim der Diakonie Himmelsthür in Holtorf, der Verein Herberge zur Heimat mit allen angegliederten Bereichen, das Jugenddorf, die Sozialstation, alle kirchlichen Kitas, die Wohnungslosenhilfe im ehemaligen „Blickpunkt“-Gebäude und der Kleiderladen in Stolzenau. Die Aktion „Brot für die Welt“ wurde ebenfalls vom Diakonischen Werk ins Leben gerufen.
 
Okay. Das ist wirklich ne Menge. Bei all diesen Angeboten sollte doch wohl alles gut sein im Landkreis Nienburg.
 
Marion Schaper: Ist es aber leider nicht. Im Vergleich z. B. zu 1985 ist die Armut heute krasser denn je. Offiziell gilt jede vierte Familie als arm oder von Armut bedroht. All die Menschen, die sich schämen, um staatliche Leistungen zu bitten, sind hier noch gar nicht eingerechnet.
 
Wie kann das sein?
 
Marion Schaper: Ein Riesenrückschritt war die Einführung von Hartz IV. Die Hartz IV-Gesetzgebung hat unendlich viele Menschen in die Armut abrutschen lassen. Ein weiterer großer Fehler war die damit verbundene Einführung des Niedriglohnsektors, wodurch viele Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr allein mit Arbeit sicherstellen konnten und ihren Verdienst mit stattlichen Leistungen aufstocken mussten. Noch gar nicht ausmalen mag ich mir, wie sich die in diesen Tagen verabschiedete  Kindergrundsicherung auf die Kinder auswirkt. Kinder sind die Zukunft unseres Landes. Wollen wir es uns wirklich leisten, jedes vierte Kind ohne oder mit einem schlechten Schulabschluss aus dem Bildungssystem zu entlassen? Sie werden der Gesellschaft fehlen. Als Menschen, die vollwertig das Gemeinwesen mitgestalten, als Arbeitskräfte und als Steuerzahler. Hinzu kommt: Armut macht im wahrsten Sinne des Wortes krank. Sowohl die Zahl der psychosomatischen Erkrankungen als auch sogar die Sterberate sind deutlich erhöht. Zudem gilt, wer sich nur das Billigste vom Billigen leisten kann, ist gezwungen, sich ungesund und noch dazu klimaschädlich zu ernähren. Ganzheitliches Denken vermisse ich an so vielen Stellen.
 
Hm. Das klingt alles andere als ermutigend. Kann die Diakonie als der soziale Dienst der evangelischen Kirche daran wirklich nichts ändern?
 
Marion Schaper: Auf lokaler Ebene sind wir Bestandteil des NetzWerks Landkreis Nienburg, einem Zusammenschluss von mittlerweile 27 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich vor Ort für Frieden, Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Wir laden Bundestagsabgeordnete zu uns ein, wenn uns aber hin und wieder auch an die lokale Verwaltung und Politik. Auf regionaler und überregionaler Ebene legen wir als Diakonie den Finger in die Wunden. Unser Verband hat mehrfach Studien zur Armutssituation vorgelegt und gerade ganz aktuell deutliche Worte zu den Plänen zu Kindergrundsicherung gefunden. Ich verstehe uns als Sprachrohr für all jene, die Angst haben und sich schämen, ihre Stimme zu erheben und die ohnehin in der Regel nicht gehört werden. Aber auch wir können nur partiell etwas bewegen. Im Kleinen helfen wir natürlich durch Beratungsdienste, Einrichtungen und Projekte.
 
Es gibt ja bereits lokale Akteure, die die Kindergrundsicherung als Etikettenschwindel einstufen. Sind Sie ähnlich pessimistisch?
 
Marion Schaper: Ja, denn es wird aus meiner Sicht hier, wie überhaupt bei der Lösung so vieler Probleme nicht ganzheitlich und nachhaltig gedacht. Die Herausforderungen unserer Zeit sind beträchtlich und komplex. Deutschland wird älter, diverser, kulturell, ethnisch und religiös vielfältiger. Die Frage, was uns als Gesellschaft zusammenhält, wird drängender, aber nicht hinreichend beantwortet. Es wird an Symptomen herumkuriert, aber die Ursachenbekämpfung und die Prävention bleiben auf der Strecke. Ehrlich gesagt, bin ich erschrocken, wie aktuell die 175 Jahre alten Worte von Wichern sind.
 
Gibt es auch etwas in der langen Geschichte der Diakonie, das Ihnen Mut macht?
 
Marion Schaper: Mut machen mir Frauen wie z. B.  Amalie Sieveking, die ihrer Zeit voraus war und als eine Vorreiterin der modernen Sozialarbeit und Mitbegründerin des Diakonischen Werkes gilt. Als Frau aus gutem Hause gründete sie in Hamburg eine Schule für junge Mädchen und unterrichtete jeden Sonntag Mädchen in Armenhäusern. Als 1831 in Hamburg die Cholera ausbrach, arbeitete Sieveking freiwillig in den Armenhäusern als Krankenpflegerin und rief andere Frauen von Stand auf, sich ihr anzuschließen, gründete einen Verein und institutionalisierte so ihr Tun. Zudem ließ sie Sozialwohnungen bauen und nicht zuletzt auch Kinderwagen und beauftragte arbeitslose Männer, die Kleinkinder von Arbeiterinnen auszufahren. Man darf nicht vergessen, dass die Geschichte der Diakonie auch eine Geschichte der Frauen ist, nicht zuletzt, weil den Großteil der diakonischen Arbeit in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten etc. Frauen stemmen.
 
Was denken Sie, würde unsere Gesellschaft in diesen Zeiten brauchen?
 
Marion Schaper: Neben ganzheitlichen und nachhaltigen Ansätzen wünsche ich mir, dass sich mehr Menschen von den Problemen, den Sorgen und Nöten der Menschen, die ihren Platz nicht mehr in der Gesellschaft finden, berühren lassen. Und auch hier würde ich gerne mit Amalie Sieveking sagen; „Liebe muss die Wurzel all unseres Denkens und Tuns sein“. Nein, ich bin absolut keine Sozialromatikerin, aber das, was wir erleben, also Egoismus, Gier, Machtstreben und Festhalten an überkommenen Strukturen, tut keiner Gesellschaft gut.
Quelle: Diakonisches Werk Kirchenkreis Nienburg
Gemeinschaftsarbeit im Gemeinschaftsgarten Neue Erde , wo das Jubiläum am 08.09. begangen wird
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