Nienburg. „Sei die Gestalterin Deines Lebens.“ Dazu lädt das Diakonische Werk Frauen, die wissen möchten, wo sie stehen oder eventuell etwas verändern wollen, ab dem 6. April zum mittlerweile fünften Mal ein.
Weil das Konzept des Angebotes nach wie vor überzeugt, ist es Marion Schaper, Geschäftsführerin des Diakonischen Werks, erneut gelungen, Fördermittel von der Landeskirche und vom Kirchenkreis Nienburg einzuwerben. Geleitet wird das Coaching auch dieses Mal von Rita Traue aus Warmsen, um die Anmeldung und alles drum herum kümmert sich Nanett Krüger, vielen als Kurenberaterin in der Geschäftsstelle des Diakonischen Werks in der Friedrichstraße in Nienburg bekannt.
40 Frauen haben bisher die Chance genutzt, ein halbes Jahr lang immer sonnabends von 9.30 bis 13.30 Uhr mehr über sich zu erfahren.
Frauen, die unzufrieden mit ihrem Arbeitsplatz waren, haben den Mut aufgebracht, sich beruflich zu verändern, Mütter, die der Meinung waren, dass die Betreuung der Kinder oder zu pflegenden Angehörigen besser verteilt werden könnte, haben die Kraft aufgebracht, das zu ändern, und wieder andere haben im Verlauf des Seminars festgestellt: Alles ist gut so, wie es ist, ich bin mit mir im Reinen.
Das Coaching findet in einer Gruppe von etwa zehn Frauen statt, das Alter spielt keine Rolle. So kommen Frauen zusammen, die mit ihren kleinen Kindern mehr als ausgelastet sind, Frauen, deren Kinder mitten in der Pubertät stecken, aber auch Frauen, deren Kinder längst flügge sind, die mit oder ohne Partner leben oder schon verwitwet sind.
„Das Coaching wird in jedem Fall etwas mit dir machen. Es wird dich stärken und dich gelassener leben lassen.“ Diese Prognose von Rita Traue zu Beginn des Coachings ist noch bei jeder Teilnehmerin Realität geworden. Entsprechend fielen die Rückmeldungen aus, um die Rita Traue die bisherigen Teilnehmerinnen spontan für diesen Artikel gebeten hatte. „Ich habe an Selbstbewusstsein gewonnen, ich habe gelernt, mehr auf meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu achten, ich habe Freundinnen gefunden, ich habe gemerkt, dass alles gut ist bei mir“, lauteten die Antworten von Teilnehmerinnen aus den ersten vier Durchgängen. „Die Frauen lernen voneinander, und vieles passiert so ganz nebenbei im gemeinsamen Gespräch“, weiß die Coachin aus Erfahrung.
Die Infoveranstaltung zu der fünften Runde von „Sei die Gestalterin Deines Lebens“ findet am 14. März um 16.15 Uhr in der Geschäftsstelle des Diakonischen Werks in der Friedrichstraße 20 in Nienburg statt.
Nienburg. „2022 waren von den insgesamt fünf Millionen Empfängerinnen und Empfängern von Bürgergeld – damals noch Hartz 4 –ganze drei Prozent von Sanktionen betroffen. Jetzt so zu tun, als wenn alle Bezieherinnen und Bezieher dieser Transferleistung zu faul zum Arbeiten wären und sie damit unter Generalverdacht zu stellen, ist purer Populismus.“
Marion Schaper, Werner Behrens und Wolfgang Kopf ist die Verärgerung auf Anhieb anzumerken. Als Vertreterinnen undVertreter des Nienburger Bündnisses Soziale Gerechtigkeit hatten sieum ein Gespräch gebeten. Ihr Thema: Die soziale Kälte, die sich überall in diesem Land breit macht.
Wahlkampf hat begonnen
„Ganz offensichtlich hat der Wahlkampf bereits begonnen. Es darf aber doch nicht sein, dass ausschließlich auf den Menschen rumgetrampelt wird, die sich nicht wehren können“, so die Drei.
„An dieReichen trauen sie sich nicht heran.Wie anders ist zu erklären, dass dasThema Reichensteuer von vornherein im Koalitionsvertrag ausgeklammert wurde“, gibt Wolfgang Kopf zubedenken.„Immer wieder zu behaupten, dass Empfänger von Bürgergeld mehr Geld zur Verfügung haben als diejenigen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, ist eine infame Lüge“, betont Werner Behrens. „Es ist erwiesen, dass eine Familie mit zwei Kindern selbst bei beiden Eltern mit Mindestlohneinkünften dank des Anfang 2023 eingeführten Wohngeldes 800 Euro im Monat mehr zur Verfügung haben, als eine vergleichbare Familie, die Bürgergeld bezieht“, so der Gewerkschaftler weiter. „Was aber nicht bedeutet, dass der Mindestlohn nicht weiter angehoben werden müsste. 14, besser 15 Euro“, so Behrens.
„Merkt denn niemand, dass ausgerechnet die Schwächsten in der Gesellschaft gegeneinander ausgespielt werden“, ergänzt Marion Schaper, seit über 40 Jahren Geschäftsführerin des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Nienburg. Alle drei untermauern die Forderung der Sozialverbände, das Bürgergeld auf 700 Euro anzuheben. „Selbst mit dem zum 1. Januar um 61 Euro erhöhten Regelsatz leben die Betroffenen ständig in der Angst, dass etwas Unvorhergesehenes passieren könnte und sie in einen Schuldenstrudel geraten“, so Marion Schaper weiter. „Was ist aus unserem Sozialstaat geworden? Es ist erwiesen, dass Armut krank macht und sich vererbt, weil zu wenig Geld in die Bildung investiert wird. Hinzu kommt, dass viele Menschen nicht mehr arbeiten können, weil sie unverschuldet aus der Bahn geworfen wurden, krank sind oder die Arbeit aufgrund ihres Alters nicht mehr schaffen“, gibt die Diakonie-Geschäftsführerin zu bedenken. „Warum gibt es nicht endlich eine Reichen- oder eine Transaktionssteuer. Das Geld wird so dringend für die Bildung benötigt. Zu wenig politische Bildung gefährdet erwiesenermaßen die Demokratie“, wirft Wolfgang Kopf ein. Kopf ist Mitglied der Bürgerinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Entsetzt ist der Nienburger auch darüber, was aus der Kindergrundsicherung werden soll. „Einst vollmundig propagiert, entpuppt sie sich als Mogelpackung. Zumindest für Eltern mit normalem Einkommen. Parallel den Kinderfreibetrag zu erhöhen und damit den reichen Eltern noch mehr Geld in die Kasse zu spülen, scheint dagegen problemlos möglich zu sein“, so Kopf. „Dass die Armen angesichts steigender Mieten noch ärmer werden, die Reichen einen viel größeren CO2-Fußabdruck hinterlassen und die Gier der Menschen, die ohnehin schon viel haben, laut jüngstem Oxfam-Bericht ins Grenzenlose zu gehen scheint, scheint ebenfalls niemanden wirklich zu interessieren“, so die Drei. Abschließend fragen sie: „Ginge es uns nicht allen besser, wenn wir wieder mehr füreinander eintreten und uns solidarisieren mit Menschen, denen es nicht so gut geht wie uns?"
Die Energiekostenberatung des Diakonischen Werkes Nienburg, die Anfang des Jahres neu eingerichtet worden ist, war in den letzten Monaten zum großen Teil damit beschäftigt, mit Ratsuchenden die Anträge auf Brennstoffkostenhilfe für 2022 zu erläutern und gemeinsam auszufüllen. Dies betraf Haushalte, die mit nicht leitungsgebundenen Brennstoffen (also Heizöl, Flüssiggas, Pellets und anderen) heizen und dafür im Vorjahr erhebliche Mehrkosten hatten. Dieses Bundesprogramm ist im Oktober ausgelaufen, hier können keine Anträge mehr gestellt werden. Nach aktuellen Informationen wird das Programm auch nicht verlängert.
Das Programm der Strom- und Gaspreisbremse wird dagegen bis April 2024 fortgeführt. Hier wird der Preis jeweils für die ersten 80 Prozent vom Gasverbrauch auf 12 Cent pro Kilowattstunde und beim Stromverbrauch auf 40 Cent pro Kilowattstunde gedeckelt.
Die Beratungsstelle steht laut der Geschäftsführerin Marion Schaper auch für weitere Fragestellungen rund um das Thema Energiekosten, WohngeldPlus und Haushaltsplanung Verfügung, da es nach den diversen Preissteigerungen erheblichen Beratungsbedarf gibt. Die Energiepreise sind zwar im Vergleich zu 2022 deutlich gesunken, aber immer noch höher als in den Jahren davor. Hier haben viele Menschen Probleme, diese zu bezahlen, gerade wegen der gestiegenen Preise für andere Güter des täglichen Bedarfes. Da gilt es, Energiesperren zu vermeiden und Vereinbarungen mit den Versorgern zu treffen.
Es kann der Berater Wolfgang Lippel auch dabei helfen, eine Haushaltsplanung durchzuführen. Dazu werden sowohl die Einnahmen als auch die Ausgaben erfasst. Dann wird gemeinsam besprochen, wie Kosten gesenkt oder weitere Einnahmen (zum Beispiel durch Anträge auf staatliche Leistungen) erzielt werden können. Ein leicht verständliches und auszufüllendes Formular ist bei der Beratungsstelle erhältlich.
Seit Anfang des Jahres gibt es auch das neue WohngeldPlus, das wesentlich mehr Haushalten als vorher offensteht. Hier lohnt es sich, eine erste grobe Berechnung vorzunehmen, ob ein Anspruch besteht. Die Anträge sind bei den jeweiligen Kommunen erhältlich.
Auch bei Beziehenden von Sozialleistungen wie Bürgergeld oder Sozialhilfe kann geprüft werden, ob es Möglichkeiten zur Hilfe gibt. Bei Nachzahlungen bei der Strom- oder Gasjahresrechnung können Anträge auf Übernahme gestellt werden. Bei Gas wird die Nachzahlung, soweit der Verbrauch angemessen ist, vom Jobcenter oder Sozialamt übernommen. Bei Stromnachzahlungen können Anträge auf ein Darlehen zur Übernahme gestellt werden. Auch hier kann die Beratungsstelle helfen.
Personen, die eigentlich keine dieser Sozialleistungen beziehen, können in dem Monat, in dem die Gasjahresrechnung kommt, nur für diese Zeit einen Leistungsanspruch haben. Hier gilt es schnell zu handeln, da die Anträge in dem jeweiligen Monat gestellt werden müssen.
Eineoffene Sprechstundefindet jeweils donnerstags von 10 bis 12 Uhr statt. Telefonisch ist Herr Lippel donnerstags unter 05021-979615 und per E-Mail unter ekb.dwnienburg@evlka.dezu erreichen.
Die Ampel-Regierung hat in ihrem Haushaltsentwurf für 2024 drastische Kürzungen für soziale und zivil-gesellschaftliche Organisationen beschlossen, die zu massiven Einschnitten bei sozialen Angeboten auch in Stadt und Landkreis führen würden (DIE HARKE berichtete). Mitte November stehen im Bundestag die Haushaltsbereinigungsbeschlüsse an.
Das Bündnis für soziale Gerechtigkeit des NetzWerkes im Landkreis Nienburg dem u.a. der DGB, Ver.di, das Diakonische Werk Kirchenkreis Nienburg, BI Grundeinkommen und Herberge zur Heimat angehören, erklärt sich solidarisch mit den geplanten Protestaktionen und den gestellten Forderungen. Es fordert insbesondere die heimischen MdB auf, sich energisch und öffentlich für eine Kurskorrektur zum Stopp der Sozialkürzungen einzusetzen.
Kurzfristig hat der AWO-Bundesverband für Mittwoch, 8.November, 16-18 Uhr, gemeinsam mit Diakonie, Paritätischem, DRK und weiteren Organisationen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und dem Mieterbund zur Protestkundgebung nach Berlin zum Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude eingeladen.
In einem an die Abgeordneten der demokratischen Bundestagsfraktionen gerichteten, die Kundgebung flankierenden, „Offenen Brief“ der AWO wird eine Kurskorrektur in 10 Punkten gefordert: 1. Kürzungen im Bereich der Migrationssozialarbeit gänzlich zurückzunehmen; 2. Keine Freiwilligenplätze abzubauen; 3. Bei der Finanzierungszusage für Demokratieföderprojekte keine Ausnahmen zu machen, auch das Programm Respekt Coaches zur Demokratiebildung an Schulen muss bestehen bleiben; 4. Nicht beim Steuerzuschuss für die soziale Pflegeversicherung zu sparen; 5. Ausreichend Mittel für die Einführung des Familienpflegegeldes zur Verfügung zu stellen, wie im Koalitionsvertrag angekündigt; 6. Die Maß-nahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt nicht zu kürzen, gerade (nicht) für junge Menschen; 7. Mutig in mehr sozialen Wohnungsbau zu investieren; 8. Die Kindergrundsicherung ausreichend zu finanzieren, statt nur eine Ver-waltungsreform durchzuführen; 9. Die Mittel des Kinder- und Jugendplans aufzustocken, statt zu kürzen; 10. Die wichtige Arbeit von Jugend-, Familien- und Wohlfahrtsverbänden finanziell auf sichere Füße zu stellen und die Mittel entsprechend dem Bedarf aufgrund steigender Tarife und Kosten zu dynami-
sieren.
Bei seinen Beratungen stellte das Nienburger Bündnis für soziale Gerechtigkeit fest, dass die Kürzungen der Bundesmittel auch in Stadt und Landkreis schmerzliche Folgen hätten. Z.B. die Migrationsberatung des Diakonischen Werkes, der AWO und des CJD müsste mit Kürzungen von Stellenanteilen rechnen. Frei-willigendienste in sozialen Projekten würden einbrechen. Demokratieprojekte, z.B. bei WABE zu kürzen wäre in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung unverantwortlich.
Insgesamt sei, so das Nienburger Bündnis für soziale Gerechtigkeit, in unserer immer stärker auseinander driftenden Gesellschaft auch hier vor Ort professio-nelles Handeln gefragt, um die Ursachen für finanziellen und gesellschaftlichen Abstieg, Ausgrenzung und Neiddebatten abzubauen.
Dazu brauche es Wohlfahrtsverbände, Vereine und bürgerschaftliche Initiativen, die mit speziellen Beratungsangeboten über Begegnungs- und Integrationsprojekte bis hin zu sozialpolitischen Bewegungen an der Beseitigung der Ursachen der gesellschaftlichen Spaltung mitarbeiten. Gemeinnützige Träger sozialer Einrichtungen seien jedoch auf ausreichende sozialstaatliche Mittel angewiesen. Sozialkürzungspläne wie im Haushalt 2024 vorgesehen, seien in Zeiten zunehmender Ungleichheiten und Abstiegsängste absolut kontra-produktiv.
Wer die entsprechende Petition an die Bundesregierung unterzeichnen und sich gegen weitere Kürzungen im sozialen Bereich einsetzen möchte, kann die unter
Über das Bürgergeld wird viel diskutiert. Es stellt eine Grundsicherung dar, die allen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen soll. Sie muss die physische Existenz, aber auch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe garantieren.
Viele halten das Bürgergeld nach wie vor für zu hoch.
Die Diakonie Deutschland, der Evangelische Verband Kirche-Wirtschaft-Arbeitswelt e.V., der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt Bayern und das Armutsnetzwerk e.V. haben gemeinsam ein Spiel entwickelt, das sehr gut zeigt, wie ein Leben mit 502 € im Monat aussieht.
Und so funktioniert es: Verteilen Sie die monatlich verfügbaren 502 Euro auf die essentiellen Ausgabenposten wie Nahrungsmittel, Kleidung, Telefon, Bildung, Internet, Strom und Gas. Sie müssen genau auf 0 Euro kommen, ohne ins Minus zu rutschen. Nur dann heißt es am Ende: "Bingo".
Spannend ist es auch, zunächst die Beträge einzugeben, die man ganz real in seinem Leben monatlich für die genannten Bereiche aufwendet. So zeigt sich besonders anschaulich, welche Herausforderungen von Bürgergeldbeziehende ständig zu bewältigen sind.
Das Spiel hat eine wichtige Botschaft. Es will einer Diskussion entgegentreten, die auf falschen Behauptungen und Vorurteilen gegenüber Bürgergeld-Berechtigten beruht.
Denn eines steht fest: Menschen, die Bürgergeld beziehen, sind Menschen wie Du und ich in unterschiedlichen Lebenssituationen, darunter Erwerbstätige und Arbeitslose, Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche. Eins haben sie gemeinsam: Sie müssen täglich darum kämpfen, über die Runden zu kommen.
In der Woche vom 23.10.- 27.10.2023 finden in den Bereichen Sozialberatung, Kur und Erholung, Migrationsberatung und Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung aufgrund von Urlaubszeiten keine offenen Sprechstunden statt.
Ab dem 01.11.2023 erfolgen diese wieder wie gewohnt.
Die Zeiten der nächsten Sprechstunden sind wie folgt:
Migrationsberatung: Mittwoch den 01.11.2023 von 9:00 Uhr bis 11:00 Uhr
Sozialberatung: Donnerstag den 02.11.2023 von 9:30 Uhr bis 12:00 Uhr Kur- und Erholung: Freitag den 03.11.2023 von 9:00 Uhr bis 11:00 Uhr
Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung: Montag, den 06.11.2023 von 9:00 Uhr bis 11:00 Uhr
Geht es den Menschen heute besser? / Diakonie-Geschäftsführerin Marion Schaper im HARKE-Interview / Jubiläumsaktionen am 2. und am 8. September
Es sind unruhige Zeiten. Das Vertrauen in die Eliten ist erschüttert. Das gesellschaftliche Gefüge bebt. Neue Technologien revolutionieren die Arbeitswelt, die urbanen Zentren wachsen, ländliche Räume veröden, die Menschen gehen auf die Straße. So in etwa ist die Lage, als der Lehrer und Theologe Johann Hinrich Wichern am 22. September 1848 auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg seine Brandrede hält und der dort versammelten Geistlichkeit kollektives Versagen an der verarmten Bevölkerung vorwirft. Eine seiner Kernbotschaften lautet: „Wachsende Armut frisst die Würde zu vieler Menschen auf und nur wenige Wohlhabende zeigen daran Interesse.“ Wichern setzt damit den entscheidenden Impuls für die Geburtsstunde des Diakonischen Werks. Geschäftsführerin des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Nienburg ist Marion Schaper. Im Interview mit der HARKE berichtet sie, was im Rahmen der Jubiläumswoche „175 Jahre Diakonie“ in Nienburg geplant ist und wie es heute bestellt ist um die Menschen im Landkreis Nienburg.
Frau Schaper, 175 Jahre Diakonisches Werk. Ein Grund zum Feiern?
Marion Schaper: Nicht wirklich. Im Grunde ist es schlimm, dass es die Angebote des Diakonischen Werks immer noch geben muss. Und dass sie wichtiger sind denn je. Wir nehmen dieses Jubiläum darum eher zum Anlass, auf uns und unsere Botschaft aufmerksam zu machen. Wer möchte, kann am Sonnabend an unserem Infostand auf dem Nienburger Wochenmarkt mit uns ins Gespräch kommen. Die Jubiläumsfeier selbst findet am 8. September ab 15 Uhr im Gemeinschaftsgarten „Neue Erde“ am Ende des Bruchwegs in Nienburg statt. Ohne Sekt und ohne Feuerwerk. Aber dennoch wollen wir würdigen, was die Mitarbeitenden damals und heute geleistet haben und leisten. Und es wird Selbstgebackenes aus dem Lehmofen, sowie auch ein kleines Kinderfest geben. Auch zu dieser Veranstaltung sind alle Interessierten vielmals willkommen.
Seit wann gibt es denn die Geschäftsstelle des Diakonische Werkes in Nienburg?
Marion Schaper: Als ich 1985 nach Nienburg kam, wurde die Geschäftsstelle zu ersten Mal mit Mitarbeiterinnen besetzt. Sie bestand aus zwei Personen. Die eine war Hannelore Zachlod, die andere war ich. Superintendent Dr. Werner Monselewski war damals mein Chef. Er und Werner Feldmann, der damals Leiter des Kreis-Sozialamtes und Mitglied im Kirchenkreisvorstand war, hatten bis dahin die diakonische Arbeit im Kirchenkreis mit viel Herzblut gemanagt. Heute besteht unser Team aus 9 festen Kräfte und einer freien Mitarbeiterin.
Die Angebote des Diakonischen Werks? Ich habe in erster Linie die Beratungsstelle in der Friedrichstraße vor Augen. Was gibt es sonst noch?
Marion Schaper: Zu uns gehört ja noch die Neue Erde inklusive Kinderprojekt „Flotte Möhre“. Zum Diakonischen Werk gehören im Kreis Nienburg die Diakonischen Werke Stolzenau-Loccum und Hoya, außerdem das Wohnheim der Diakonie Himmelsthür in Holtorf, der Verein Herberge zur Heimat mit allen angegliederten Bereichen, das Jugenddorf, die Sozialstation, alle kirchlichen Kitas, die Wohnungslosenhilfe im ehemaligen „Blickpunkt“-Gebäude und der Kleiderladen in Stolzenau. Die Aktion „Brot für die Welt“ wurde ebenfalls vom Diakonischen Werk ins Leben gerufen.
Okay. Das ist wirklich ne Menge. Bei all diesen Angeboten sollte doch wohl alles gut sein im Landkreis Nienburg.
Marion Schaper: Ist es aber leider nicht. Im Vergleich z. B. zu 1985 ist die Armut heute krasser denn je. Offiziell gilt jede vierte Familie als arm oder von Armut bedroht. All die Menschen, die sich schämen, um staatliche Leistungen zu bitten, sind hier noch gar nicht eingerechnet.
Wie kann das sein?
Marion Schaper: Ein Riesenrückschritt war die Einführung von Hartz IV. Die Hartz IV-Gesetzgebung hat unendlich viele Menschen in die Armut abrutschen lassen. Ein weiterer großer Fehler war die damit verbundene Einführung des Niedriglohnsektors, wodurch viele Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr allein mit Arbeit sicherstellen konnten und ihren Verdienst mit stattlichen Leistungen aufstocken mussten. Noch gar nicht ausmalen mag ich mir, wie sich die in diesen Tagen verabschiedete Kindergrundsicherung auf die Kinder auswirkt. Kinder sind die Zukunft unseres Landes. Wollen wir es uns wirklich leisten, jedes vierte Kind ohne oder mit einem schlechten Schulabschluss aus dem Bildungssystem zu entlassen? Sie werden der Gesellschaft fehlen. Als Menschen, die vollwertig das Gemeinwesen mitgestalten, als Arbeitskräfte und als Steuerzahler. Hinzu kommt: Armut macht im wahrsten Sinne des Wortes krank. Sowohl die Zahl der psychosomatischen Erkrankungen als auch sogar die Sterberate sind deutlich erhöht. Zudem gilt, wer sich nur das Billigste vom Billigen leisten kann, ist gezwungen, sich ungesund und noch dazu klimaschädlich zu ernähren. Ganzheitliches Denken vermisse ich an so vielen Stellen.
Hm. Das klingt alles andere als ermutigend. Kann die Diakonie als der soziale Dienst der evangelischen Kirche daran wirklich nichts ändern?
Marion Schaper: Auf lokaler Ebene sind wir Bestandteil des NetzWerks Landkreis Nienburg, einem Zusammenschluss von mittlerweile 27 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich vor Ort für Frieden, Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Wir laden Bundestagsabgeordnete zu uns ein, wenn uns aber hin und wieder auch an die lokale Verwaltung und Politik. Auf regionaler und überregionaler Ebene legen wir als Diakonie den Finger in die Wunden. Unser Verband hat mehrfach Studien zur Armutssituation vorgelegt und gerade ganz aktuell deutliche Worte zu den Plänen zu Kindergrundsicherung gefunden. Ich verstehe uns als Sprachrohr für all jene, die Angst haben und sich schämen, ihre Stimme zu erheben und die ohnehin in der Regel nicht gehört werden. Aber auch wir können nur partiell etwas bewegen. Im Kleinen helfen wir natürlich durch Beratungsdienste, Einrichtungen und Projekte.
Es gibt ja bereits lokale Akteure, die die Kindergrundsicherung als Etikettenschwindel einstufen. Sind Sie ähnlich pessimistisch?
Marion Schaper: Ja, denn es wird aus meiner Sicht hier, wie überhaupt bei der Lösung so vieler Probleme nicht ganzheitlich und nachhaltig gedacht. Die Herausforderungen unserer Zeit sind beträchtlich und komplex. Deutschland wird älter, diverser, kulturell, ethnisch und religiös vielfältiger. Die Frage, was uns als Gesellschaft zusammenhält, wird drängender, aber nicht hinreichend beantwortet. Es wird an Symptomen herumkuriert, aber die Ursachenbekämpfung und die Prävention bleiben auf der Strecke. Ehrlich gesagt, bin ich erschrocken, wie aktuell die 175 Jahre alten Worte von Wichern sind.
Gibt es auch etwas in der langen Geschichte der Diakonie, das Ihnen Mut macht?
Marion Schaper: Mut machen mir Frauen wie z. B. Amalie Sieveking, die ihrer Zeit voraus war und als eine Vorreiterin der modernen Sozialarbeit und Mitbegründerin des Diakonischen Werkes gilt. Als Frau aus gutem Hause gründete sie in Hamburg eine Schule für junge Mädchen und unterrichtete jeden Sonntag Mädchen in Armenhäusern. Als 1831 in Hamburg die Cholera ausbrach, arbeitete Sieveking freiwillig in den Armenhäusern als Krankenpflegerin und rief andere Frauen von Stand auf, sich ihr anzuschließen, gründete einen Verein und institutionalisierte so ihr Tun. Zudem ließ sie Sozialwohnungen bauen und nicht zuletzt auch Kinderwagen und beauftragte arbeitslose Männer, die Kleinkinder von Arbeiterinnen auszufahren. Man darf nicht vergessen, dass die Geschichte der Diakonie auch eine Geschichte der Frauen ist, nicht zuletzt, weil den Großteil der diakonischen Arbeit in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten etc. Frauen stemmen.
Was denken Sie, würde unsere Gesellschaft in diesen Zeiten brauchen?
Marion Schaper: Neben ganzheitlichen und nachhaltigen Ansätzen wünsche ich mir, dass sich mehr Menschen von den Problemen, den Sorgen und Nöten der Menschen, die ihren Platz nicht mehr in der Gesellschaft finden, berühren lassen. Und auch hier würde ich gerne mit Amalie Sieveking sagen; „Liebe muss die Wurzel all unseres Denkens und Tuns sein“. Nein, ich bin absolut keine Sozialromatikerin, aber das, was wir erleben, also Egoismus, Gier, Machtstreben und Festhalten an überkommenen Strukturen, tut keiner Gesellschaft gut.